Von Liszt zum Lehrwerk
Marie Trautmann, am 17. August 1846 im elsässischen Steinseltz geboren, zeigte schon als Kind außergewöhnliche pianistische Fähigkeiten und wurde konsequent in Richtung einer Virtuosenkarriere gefördert – zu dieser Zeit für eine Frau zwar nicht ganz neu (man denke an Clara Wieck bzw. Schumann), aber doch noch recht ungewöhnlich. 1866 heiratete Trautmann den Pianisten Alfred Jaëll, mit dem sie fortan häufig als Klavierduo konzertierte. Nachdem ihr Gatte 1882 mit noch nicht 50 Jahren starb, setzte Marie Jaëll ihre Karriere solistisch fort, wirkte aber auch als Sekretärin (und Muse) Franz Liszts, den sie in den Jahren ab 1883 mehrfach für einige Monate in Weimar besuchte. Seit den 1870er Jahren war sie auch kompositorisch tätig. In den 1890er Jahren stellte sie sowohl die Kompositions- als auch die Konzerttätigkeit weitgehend ein und erarbeitete statt dessen Lehrwerke für das Klavierspiel, bei denen sie als neue Idee die konsequente Orientierung an den physiologischen Gegebenheiten der Hand einführte und in diesem Kontext mit dem Arzt Charles Féré zusammenarbeitete. Am 4. Februar 1925 starb sie in Paris, und während ihre Lehrmethodik von ihren Schülern weiterentwickelt wurde, gerieten ihre Kompositionen weitgehend in Vergessenheit, der sie erst im 21. Jahrhundert systematisch entrissen wurden: Die Pianistin Cora Irsen spielte in Kooperation mit dem Westdeutschen Rundfunk das Gesamtwerk Marie Jaëlls für Klavier ein, das bei querstand sowohl als einzeln erhältliche CDs als auch als CD-Box „Marie Jaëll: Complete Works for Piano“ erschienen ist und 2017 mit einem ECHO Klassik in der Kategorie „Editorische Leistung“ ausgezeichnet wurde.
Der erste Teil stellt gezielt die frühen Klavierwerke der Musikerin – wie ihre Sonate oder das Albumblatt – späteren Kompositionen gegenüber, die unter dem intensiven Einfluss Franz Liszts entstanden. Mit den „18 pièces pour piano d’après la lecture de Dante“ in Volume 2 wird ein Ausnahmewerk der Epoche präsentiert. Der Zyklus, der sich auf „Die göttliche Komödie“ Dantes bezieht, zeigt die Komponistin als faszinierende Wegbereiterin der Moderne und insbesondere der französischen impressionistischen Schule, die die Möglichkeiten ihres Instruments aufs Intelligenteste ausreizt. Die auf Volume 3, einer Doppel-CD, ausgewählten und zu einem abwechslungsreichen Programm gefügten „Kleinigkeiten“ und Miniaturen-Sammlungen sind in mannigfaltigsten atmosphärischen, gedanklichen und illustrativen Ausprägungen sowohl Beweise fachlicher Meisterschaft als auch mit allen Tugenden versehen, der Klaviermusik neue, für die damalige Zeit ungewöhnliche, gelegentlich sogar ungeahnte Impulse zu verleihen. Der letzte Teil der Gesamteinspielung der Klavierwerke Marie Jaëlls enthält die beiden Klavierkonzerte aus den 1880er Jahren. Im zweiten Konzert sind Einflüsse von Liszts späten kompositorischen Stil erkennbar, obwohl Jaëll ihren eigenen Kompositionsstil kontinuierlich treu bleibt. Die Einspielung der Konzerte entstanden mit dem WDR Funkhausorchester unter der Leitung des Dirigenten Arjan Tien.
Mit dieser Auszeichnung würdigte die Jury insbesondere auch das große Engagement der Pianistin Cora Irsen, die mit dieser Einspielung das Klavierschaffen von Marie Jaëll wieder in das öffentliche musikalische Bewusstsein bringen möchte.
„Der ECHO-Preis ist für mich die größte Auszeichnung für meine jahrelange Beschäftigung mit dieser außergewöhnlichen, leidenschaftlichen Frau, Komponistin, Pianistin und Wissenschaftlerin. Vor allem aber freue ich mich, dass Marie Jaëll, die ich sehr verehre, eine Öffentlichkeit erhält, die ihrer künstlerischen Arbeit gerecht wird. Gleichzeitig steht diese Auszeichnung für viele Frauen, deren künstlerisches Schaffen in der damaligen Zeit nicht ausreichend gewürdigt wurde. Ich bin zutiefst gerührt“, erklärte Cora Irsen.